Das Dorf neu denken

Im niederösterreichischen Gutenstein versucht sich eine Gruppe Menschen an einem großen Experiment: Wie kann modernes Dorfleben aussehen?

Wer auf der Südautobahn kurz vor Wiener Neustadt ins Piestingtal abbiegt, fühlt sich bald in eine andere Zeit versetzt: hat man die rauchenden Schlote der Taschentuchfabrik in Pernitz hinter sich gelassen, wird die Straße kurvig, die Felsen zu beiden Seiten höher, dann säumen Jahrhundertwende-Villen mit verblichener Fassade die Straße. Das ist der erste Eindruck von Gutenstein: ein charmanter Ort in idyllischer Lage, dem man aber anmerkt, dass er schon bessere Zeiten gesehen hat. Seit den 1950er Jahren haben hier mehr als 40 Sägewerke geschlossen, 2018 gab es nur vier Geburten, aber 46 Todesfälle. Gutenstein steht vor den klassischen Problemen einer alternden Gemeinde. Und trotzdem herrscht hier auf einmal Aufbruchstimmung. 

Dass Michael Kreuzer einmal im Bürgermeister-Büro sitzen würde, hätte bis vor wenigen Jahren nicht einmal er selbst gedacht. Völlig überraschend wurde der 52-Jährige mit der parteilosen Liste „Gut für Gutenstein” 2015 ins Amt gewählt. Man merkt Kreuzer auch nach fünf Jahren als Bürgermeister an, dass er kein Berufspolitiker ist. Er ist einer, der frei von der Leber spricht, nicht unbedingt druckreif, aber authentisch. Seinen Job als Kundenberater bei IKEA hat er behalten, „damit ich nicht erpressbar bin”. 

Wenn man aus dem großen Fenster von Kreuzers Büro sieht, wandert der Blick zu den mit Fichten und Föhren bewachsenen Hängen, über 90 Prozent der Gemeindefläche sind Wald. Ihn verwendet Kreuzer gerne als Metapher: „Einen Baum kann man erst nach hundert Jahren fällen. Da muss man jetzt schon das richtige Saatgut verwenden. Genauso wichtig ist es, in der Gemeinde weit in die Zukunft zu denken.”

Kreuzer, hellblaues Hemd, randlose Brille, hat eine Vision für Gutenstein, die die verkrusteten Strukturen der Gemeinde erst einmal durcheinandergewirbelt hat. Als er sein Amt antritt, löst sich prompt der Dorferneuerungsverein auf, und Kreuzer stoppt per Gemeinderatsbeschluss den Bau eines Seniorenwohnheims, das der vorherige ÖVP-Bürgermeister initiiert hatte. Dass 2018 trotzdem erstmals deutlich mehr Leute her- als weggezogen sind, ist zum einen Kreuzers Politik zu verdanken, und zum anderen dem Engagement einer jungen Frau aus Wien. 

„Wir hätten nicht gedacht, dass es so viele Menschen interessiert, dass eine Firma und ein paar junge Leute aufs Land ziehen”, sagt Theresa Steininger, als sie routiniert in Jeans und Karohemd durch den Gutensteinerhof führt, den ehemaligen Gasthof gegenüber vom Bahnhof. Die Stimmung im Erdgeschoss erinnert an einen Wiener Coworking Space – junge Menschen sitzen mit Headset und Handy vor ihren Laptops. Doch die Umgebung mag nicht so recht dazu passen: dunkle, holzvertäfelte Decken, Polsterbänke, ein klassisches Wirtshaus eben. Erst beim zweiten Blick erkennt man ungewöhnliche Details, ein Brettspiel aus Sri Lanka lehnt an der Wand,  der Stoff an den Bänken trägt das Logo jenes Unternehmens, wegen dem hier alle sitzen. 

Theresa Steininger ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von Wohnwagon, einem Unternehmen, das energieautarke, transportfähige Kleinsthäuser aus Holz produziert. Nachdem sie sich beruflich jahrelang mit alternativen Wohnmodellen auseinandergesetzt hatte, übersiedelte sie 2018 selbst mit rund 30 Angestellten aus Wien nach Gutenstein, um auszuprobieren, wie man modernes Dorfleben gestalten kann.

Das ist der Grund, weshalb Steininger seither alle paar Wochen von Medien interviewt wird, und weshalb Bürgermeister Kreuzer Anfragen von Gemeinden aus ganz Österreich bekommt: dass nämlich einige Dutzend junge Menschen in eine Abwanderungsgemeinde ziehen und Arbeitsplätze gleich mitbringen, ist so außergewöhnlich wie ein Doppel-Jackpot. Die Frage, wie man so eine Trendwende schafft, stößt auf großes Interesse. 

„Ich mag, wenn sich alle kennen, sich alle unterstützen”, erzählt Steininger, die im Gespräch zwischen Dialekt und Hochdeutsch wechselt, „und ich hab mich schon als Jugendliche darüber geärgert, dass das klassische Dorfleben ausstirbt.” Die 29-Jährige ist selbst in einer 2.000-Einwohner Gemeinde in Niederösterreich groß geworden, und hatte nach fast zehn Jahren in Wien das Bedürfnis, wieder aufs Land zu ziehen. Dass sie nicht in ihren Heimatort Gedersdorf  zurückgekehrt ist, liegt daran, dass sie dort mit ihren Ideen immer gegen Wände gerannt sei: „Dort hatte man wenig Lust auf Veränderung – in Gutenstein hat man den frischen Wind begrüßt!”

Denn darum geht es Theresa Steininger und ihren Kolleginnen und Kollegen: sie möchten auf dem Land leben, aber weder in dörflichen Zwängen gefangen sein, noch sich als alternative Kommune abschotten. Sie wollen einen Mittelweg. Ihr Lösungsansatz ist eine Genossenschaft mit mittlerweile 35 Mitgliedern, teils Mitarbeiter von Wohnwagon, teils Einwohnerinnen aus Gutenstein. Die „Dorfschmiede“ soll ein sozialer Dreh- und Angelpunkt sein, ein Ort, an dem Ideen und Initiativen zum Zusammenleben entstehen. Ein Beispiel ist die Waldläuferbande, in der Kinder gemeinsam Wildkräuter sammeln, Lagerfeuer entfachen und Zeit in der Natur verbringen. Ein anderes Beispiel ist der Vermögenspool, eine Finanzierungsmethode, mit deren Hilfe Steininger und ihre Mitstreiter im vergangenen Jahr den Gutensteinerhof gekauft haben und jetzt renovieren. Manche von ihnen wohnen im alten Gasthof, andere in eigenen Wohnungen und Häusern.

Dass gerade Gutenstein zum Labor für dieses Dorf-Experiment geworden ist, hat mehrere Gründe, sagt Theresa Steininger: „Der Ort hat seine Hochblüte hinter sich, es gibt wenige Wirtschaftsbetriebe, viel Leerstand. Gleichzeitig gibt es viel Potential für Neues, hier war schon ein Funke da.” Ein zentraler Punkt, weshalb Wohnwagon in Gutenstein gelandet ist, ist aber auch, dass Michael Kreuzer und Theresa Steininger gut miteinander können. Wenn die beiden übereinander reden, hört man nicht nur stets respektvolle Worte, man hört auch heraus, wie es hätte laufen können, und wie es vielleicht woanders gelaufen wäre. 

„Er hat verstanden, worum es geht und will sich nicht nur die Kommunalsteuern abholen mit einem neuen Betrieb”, sagt Steininger. 

„Sie und ihre Truppe haben nicht gesagt, wir brauchen 300.000 Euro Förderung von der Gemeinde und dann erst können wir beginnen. Sondern die haben erstmal gefragt, wo können wir mitarbeiten? Was ich mir für die Gemeinde vorgestellt hab, hat sich mit den Werten von Wohnwagon gedeckt”, sagt Kreuzer. 

„Diese zwischenmenschliche Ebene darf man nicht unterschätzen”, bestätigt Stefanie Döringer, die an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften dazu forscht, welche Rolle sogenannten Schlüsselpersonen in der Regionalentwicklung zukommt. Dazu zählen Menschen wie Kreuzer und Steininger, die Veränderungen initiieren und umsetzen. Sie können der entscheidende Faktor sein, warum ein Ort mit Herausforderungen besser fertig wird als der andere. „Damit das klappen kann, braucht es aber auch eine Art Nährboden, also ein Umfeld, das langfristig gute Rahmenbedingungen für solche Menschen schafft.”

Viele Einwohner von Gutenstein seien erst einmal skeptisch gewesen, erzählt der Pensionist Hans Längauer, der ein paar Straßen weiter wohnt: „Die haben gedacht, da kommt eine Kommune.” Mittlerweile habe sich dieses Bild gedreht, die jungen Leute würden als Hoffnungsschimmer gesehen. Das liegt auch daran, dass man Mitglieder der Dorfschmiede beim Faschingsgschnas, bei Blasmusik-Konzerten oder als Freiwillige bei den sommerlichen Raimund-Theaterfestspielen trifft. „Viele alternative Wohnprojekte am Land kochen im eigenen Saft, das entspricht uns nicht. Wir bemühen uns aktiv darum, dazuzugehören”, sagt Theresa Steininger, „aber dass einen alle mögen, ist illusorisch.” 

Es ist tatsächlich schwierig, jemanden zu finden, der offen gegen das Projekt ist: Weder die ÖVP noch die Landjugend reagieren auf Anfragen. Vielleicht liegt das auch daran, dass sich selbst politische Gegner schwer damit tun, ein Projekt schlechtzureden, das auf einen Schlag 30 neue Arbeitsplätze in eine strukturschwache Gemeinde bringt. Und über die Dorfschmiede immer mehr davon schafft: denn wer hierher ziehen will, tut gut daran, seinen Job selbst mitzunehmen. Mittlerweile sind zusätzlich zu Wohnwagon ein Gemüsegärtner und ein Tischler mit ihren Familien nach Gutenstein übersiedelt, ein Wirt für den Gutensteinerhof soll bald folgen. 

Ob die Entwicklungen auf andere Gemeinden übertragbar sind, ist aber fraglich, sagt Geographin Döringer. Engagierte Menschen könne man ja nicht im Reagenzglas erzeugen: „Jeder Ort ist ein spezifischer Mikrokosmos, was in Gutenstein funktioniert, lässt sich nicht eins zu eins auf andere Gemeinden umlegen. Aber was die kommunale Politik daraus lernen kann, ist, aktiv offen für Ideen von außen zu sein.” In dieser Rolle sehen sich auch die Initiatoren der Dorfschmiede, Theresa Steininger sagt: „Der Gutensteinerhof und der Ort sollen eine Konzentration an verschiedensten Lösungen aufzeigen. Ein Vorbild, wo ich hinkommen kann, um sie mir anzuschauen und vielleicht nur eine oder zwei davon zu übernehmen.”

Nach einer turbulenten Anfangszeit gehe es jetzt, eineinhalb Jahre später, ums Ankommen, sagt Theresa Steininger. Aus einer schwer greifbaren Idee werden immer mehr handfeste Initiativen, wie der kleine Acker, auf dem die Gutensteinerinnen bei Gärtner Erich Roßmanith mittlerweile gerne frisches Gemüse kaufen. Dass es zwischendurch Rückschläge gab, wie der Absprung einiger Mitarbeiter, die nicht nach Gutenstein übersiedeln wollten, gehört zu diesem Prozess dazu, sagt Theresa Steininger. Und auch, wenn ihr Unternehmen derzeit floriert: sollten diese Arbeitsplätze verloren gehen, wäre es für all die jungen Menschen schwierig, hier neue zu finden. Für Theresa Steininger ist das aber kein Thema, sie hat in Gutenstein sogar ein Haus gekauft. Für sie ist das ein Projekt fürs Leben, stellt sie klar: „Ich geh hier in Pension.”  

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