Die Unsichtbaren

Jeder achte Mensch in Österreich ist von Armut betroffen. Den meisten davon sieht man es nicht an. Drei Geschichten von wenig Geld und viel Engagement.

erschien im Wiener Journal

Peter Gach sticht sich eine Spritze in den Bauch. Vor drei Minuten hat auf seinem Computerbildschirm ein Alarm geläutet und geblinkt. Peter Gach ist aufgestanden, hat den Alarm abgedrückt und hat mit einer geübten Bewegung ein paar Utensilien aus dem Nachttisch geholt. Messgerät, Teststreifen, Insulin. Er sitzt in einem schwarzen Trainingsanzug auf einem kleinen Bett, über ihm an der Wand sind vergilbte Fotos angebracht.

„Das ist Vergangenheit, das sind Amsterdam und London, das war 1978″, sagt Gach ein wenig wehmütig, „Es war eine wunderschöne Zeit, damals. Da wäre ich gern länger geblieben.“ Peter Gach war das letzte Mal Ende der Achtziger Jahre auf Urlaub, in Ungarn, mit ein paar Arbeitskollegen. Seitdem nie wieder. Denn Peter Gach ist seit 1989 arbeitslos. Einen Urlaub kann er sich nicht leisten.

Rund eine Million Menschen gelten in Österreich als „arm“. Besonders armutsgefährdet sind Menschen, die erwerbslos, alleinerziehend oder zugewandert sind, die einen schlecht bezahlten und unsicheren Job haben. Wer von Armut betroffen ist, hat ein geringes Einkommen, schlechte Bildungschancen, ist häufiger krank und kann am gesellschaftlichen Leben nur eingeschränkt teilnehmen.Und Armut ist oft unsichtbar, zumindest für Menschen, die mit der Situation der Betroffenen nicht vertraut sind. Niemand sieht einem anderen an, ob er nur im Discounter einkaufen kann. Ob er sich verbietet, ins Kaffeehaus zu gehen, weil diese drei Euro für eine Melange wo anders fehlen. Ob er sich nicht traut, Bekannte in die eigene Wohnung einzuladen, weil er es sich nicht leisten kann, zu fragen: darf ich dir was anbieten?

Die Arbeit ist weg

Reich war Gach früher vielleicht nicht, aber einen Job hatte er und genug Geld, um sich eine Wohnung zu leisten, ein Auto und auch genug, um Abends mal um die Häuser zu ziehen. Er arbeitet damals beim Globus Verlag, als Druckereihelfer, oft mit Überstunden oder außerhalb der regulären Arbeitszeigen, die Zulagen bringen viel ein. Gach sagt, das Klima in der Arbeit sei gut gewesen, wie bei einer zweiten Familie habe er sich gefühlt. Bis innerhalb eines Jahres seine Mutter und seine Freundin sterben. Für das Begräbnis seiner Freundin bekommt er nicht einmal frei, sie waren noch nicht verheiratet. Gach fällt in ein Loch, er ist wütend und es kommt zu einem Zwischenfall, bei dem er sich mit seinem zuständigen Meister zerkracht. Es kracht noch ein paar Mal und dann wird der Druckereihelfer entlassen, fristlos. Die Gewerkschaft sagt, sinnlos, da kann man nichts machen, obwohl der Globus Verlag ein Paradebetrieb für sie ist.

„Die erste Zeit nach der Entlassung war traumatisch. Es gibt in der Firma ein soziales Umfeld, man hat Kollegen, da wird bald eine Freundschaft daraus. Und zu diesem Verlust kommt dann noch der finazielle“, sagt Gach. Nur mehr knapp die Hälfte des Gehalts, keine Sonderzahlungen mehr, die Bekannten, mit denen er früher die Nächte durchgefeiert hat, verschwinden nach und nach aus seinem Leben. Die Versuche, über das Arbeitsmarktservice (AMS) einen neuen Job zu finden, scheitern. Als Gach gekündigt wird, stellt die gesamte Branche gerade von Blei- auf Lichtsatz um. Was einen früher qualifizierte, ist plötzlich nicht mehr gefragt.

Seit 1. Juni 2012 ist Gach in der Korridorpension, eine zweijährige Überbrückung, bis er in die reguläre Pensionszeit eintritt. Seitdem geht es ihm besser, sagt er, denn vorher hat er Mindestsicherung bezogen, 794 Euro im Monat. Die Armutsgrenze liegt bei etwa tausend Euro. Seit er in der Korridorpension ist, bekommt Peter Gach 1079 Euro im Monat – nur wenige Euro über der Armutsgrenze, aber für den ehemaligen Druckereigehilfen eine extreme Verbesserung. Mit der ersten Sonderzahlung aus der Pension hat er sich einen Kühlschrank gekauft, jetzt fehlt ihm noch eine Waschmaschine. „Das sind alles Sachen, die hätte ich mir mit der Mindestsicherung sicher nicht kaufen können“, sagt Gach. Früher hätte er auf das Sozialamt gehen müssen, Kostenvoranschläge einholen und einen Lokalaugenschein zulassen, damit sichergestellt wird, ob er so etwas wie eine Waschmaschine wirklich braucht. „Das hab ich jetzt hinter mir und das ist ein derartiger Gewinn an Lebensqualität, wenn man nimmer bitten und betteln braucht, wenn man ein Gerät im Haushalt braucht. Das sind ja keine Luxusgüter oder so“ sagt er. Ein Anzeichen von Armut: man kann sich keine unvorhergesehenen größeren Ausgaben leisten.

Wenn es um Armut geht, werden Menschen zu Zahlen. Anders gesagt: sie werden auf Zahlen reduziert. Die Armutsstatistik sagt zwar aus, dass jeder achte Mensch in Österreich unter der Armutsgrenze lebt, aber sie kann nicht sagen, wer diese Menschen sind und wie es ihnen wirklich geht. Und Armut wird auch an einer Zahl festgemacht: 1031. Wer in einem Einpersonenhaushalt lebt und weniger als diese Summe monatlich zur Verfügung hat, gilt in Österreich als arm.

Arbeit ohne Geld

„Geld ist nur ein Aspekt. Ich weigere mich, mich arm zu fühlen“, sagt Angelika Geber (Name geändert), „Es geht so vielen Leuten um mich herum genauso.“ Genauso, das heißt in ihrem Fall, zu wenig Geld zu verdienen, obwohl sie im Monat gerade mal einen freien Tag hat. Genauso, heißt oft nicht zu wissen, wie man die nächste Miete bezahlen soll. Genauso, das heißt selbstständig zu sein. Geber ist Musikerin, sie singt in Opernchors, in kleinen Theatern, in großen Festspielhäusern, auf Hochzeiten und auf Tourneen mit einem Orchester. Trotzdem – oder besser gesagt, deswegen – hat sie oft das Gefühl, dass das Geld nicht reicht.

Wenn sie im Supermarkt vor dem Regal steht, vergleicht sie die Preise. Sie würde gerne Bio kaufen, aber wenn der Preisunterschied zu groß ist, kauft sie billigeres Essen. Schon längst bräuchte sie einen neuen Laptop, der alte hat keinen guten Akku mehr, doch das geht nicht. Nächstes Jahr darf die Miete ihrer „Wiener Wohnen“-Wohnung angepasst werden, ob sie sie dann noch bezahlen kann, weiß sie nicht.

„Komischerweise vergesse ich das dann auch wieder. Ich bin schon so gestrickt, dass ich, wenn es dann gut läuft, sehe, das ist der Beruf, den ich machen wollte, der gibt mir wahnsinnig viel Energie, ich liebe diese Arbeit und dass ich die schlechten Phasen vergesse“, sagt sie.

Eigentlich war das ganze Jahr 2013 für Geber eine eher schlechte Phase. Erst eine kleine Operation, zwei Wochen keine Einkünfte. Dann eine Grippe, die nächste Produktion fällt aus. Ein Engagement im Ausland wird kurzfristig abgesagt, Geber bekommt keine Entschuldigung und kein Geld. Wer in Österreich selbstständig arbeitet, ist über die Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft (SVA) versichert. Wer selbstständig arbeitet, bekommt nicht automatisch Krankengeld, wenn er krank ist. Und nicht automatisch Arbeitslosengeld, wenn mal ein Monat lang kein Auftrag reinkommt. Wer selbstständig ist, zahlt Selbstbehalt beim Arzt und oft hohe Nachzahlungen für die Versicherungsbeiträge, wenn die Einnahmen höher waren, als erwartet. Weil die tatsächliche Abrechnung der SVA aber erst drei Jahre im Nachhinein durchgeführt werden, kann es einem passieren, dass man für ein extrem gutes Jahr sehr hohe Nachzahlungen in einem Jahr leisten muss, in dem man sehr wenig verdient hat.

Die Ironie ist: zu viel verdienen darf die Alleinerzieherin auch nicht. Wenn sie ihre Steuererklärung ausfüllt, kann ein Euro mehr oder weniger viel ausmachen: „Weil wenn ich die magische Grenze überschreite, kriege ich nichts. Ich kriege jetzt ein bisschen Wohnbeihilfe, Schülerbeihilfe, teilweise Erleichertung bei der Krankenkasse und wenn du grad ein bisschen drüber bist, fällt das alles weg und du hast sofort sehr viel weniger Geld. Sehr arm zu sein hier ist eigentlich gar nicht so schlimm. Aber so ein ganz ein bisschen was zu haben ist ganz schlimm. Das ist absurd“, sagt sie.

Man könnte fragen: Wer ist daran schuld, wenn Geber an der Armutsgrenze kratzt, obwohl sie Vollzeit arbeitet? Ist es ihre Schuld, weil ihr die Freiheit der Selbstständigkeit so wichtig ist? Ist ist der Staat schuld, der Selbstständigkeit durch diverse Regulierungen für viele noch immer unrentabel macht? Ist es das System, das für extreme Differenzen in den Einkommen von Off-Theatern und großen Häusern, von Promi-Sängern und Chor sorgt?

Selbstbestimmt und unangenehm

Dass Angelika Geber sich trotz knapper Finanzen nicht arm fühlt, liegt aber auch an ihrem Beruf: „Die meisten Glücksmomente in meinem Leben hatte ich über die Musik. Das ist natürlich auch harte Arbeit, aber diese Glücksmomente kannst du nicht übersetzen in irgendwelche Summen. Das ist, was mich wirklich reich macht. „

Muss man sich „arm“ fühlen, wenn man wenig Geld hat? Die Menschen, die ich im Rahmen dieser Geschichte kennengelernt haben, sagen nein. Es ist ihr Recht, für ihre finanziell prekäre Situation Ausgleich in Anspruch zu nehmen. Aber es ist auch ihr Recht, diese Hilfsleistungen nicht bloß dankbar hinzunehmen, sondern sie zu kritisieren und zu hinterfragen. Wer das macht, muss sich aber schnell den Vorwurf gefallen lassen, undankbar zu sein.

Peter Gach zum Beispiel hält nichts von Sozialmärkten: „Ich bin ein totaler Gegner von solchen Geschichten. Das ist kein Beitrag zur Verbesserung der Armut.“ Gach stört die Trennung zwischen „Normalverdienern“ und „Armen“, die zur Schau Stellung von Menschen mit wenig Geld: „Bei einem SoMa stehen die Leute angestellt, da sieht jeder, was das für Leute sind – Habenichtse. Das ist auch stigmatisierend.“ Nicht nur das, er erzählt von einer Bekannten, die im Sozialmarkt einkaufen wollte, aber nie das fand, was sie wirklich brauchte um ihre Kinder gesund zu ernähren.

Falsche Hilfe

Problematisch sind öffentliche Hilfsmaßnahmen dann, wenn sie es trotzdem nicht schaffen, das Leid der Betroffenen zu lindern. So wie bei Johanna Pankhart (Name geändert): “ Ich bin oft draufgekommen , ich bin bei Sachen, die dann später gekommen sind, durchgerutscht. Solche Vergünstigungen, die es jetzt gibt. Ich hätte das auch gut brauchen können.“

Pankhart lebt mit zwei ihrer Kinder in einer Gemeindebauwohnung. 68 Quadratmeter groß, eingerichtet aus bunt zusammengewürfelten Möbeln, das meiste hat sie geschenkt bekommen. Die jüngste Tochter ist schwanger geworden und zu den Großeltern gezogen. Jetzt haben der Sohn und die ältere Tochter eigene Zimmer, Johanna Pankhart schläft im Wohnzimmer. „Meine Kinder hätten gerne eine größere Wohnung, aber wie?“, fragt sie, „Ich kann sie ja auch nicht unterstützen.“

Für Pankharts finanzielle Situation ausschlaggebend war die Scheidung von ihrem Mann. Und das, was danach geschah. Ihr damaliger Ehemann verwirklicht sich den Traum von einem eigenen Lokal, doch als das Unternehmen nach einem vereinbarten Zeitraum immer noch rote Zahlen schreibt, weigert sich Pankharts Mann, den Traumaufzugeben, wie die beiden vereinbart hatten. Je schlechter das Lokal läuft, desto schlechter behandelt der Mann Johanna Pankhart. Irgendwann reicht es ihr, sie reicht die Scheidung ein. Der Mann will das nicht akzeptieren, er droht, Johanna Pankhart umzubringen, droht, die ganze Familie umzubringen. Pankhart brennt aus, sie wiegt nur mehr 48 Kilo, flüchtet ins Frauenhaus, versucht von dort aus langsam, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.

Früher hat sie im Krankenhaus als Pflegehelferin gearbeitet. Doch dieser Beruf kommt nicht mehr in Frage. Im Krankenhaus verdient man aber nur dann gut, wenn man Sonn-, Feiertags- und Nachtdienste annimmt, doch zum Zeitpunkt der Scheidung sind die Kinder noch klein, so eine Arbeit unmöglich. Dass sie es trotzdem geschafft hat, zumindest wieder auf die Beine zu kommen, verdankt sie einigen wichtigen Menschen, Freunden, und ihrem großen Engagement.

Sie erhält psychologische Betreuung, doch nach einiger Zeit sagt die Krankenkasse, Pankhart sei stabil, sie brauche die Therapie nicht mehr. „Bei so schwerwiegenden Dingen ist die Frage, ob man wirklich gesund ist, wenn man stabil ist“, sagt Pankhart, „Da braucht man immer wieder Unterstützung.“ Sie setzt sich beim Sozialamt dafür ein, dass sie nochmals ein paar Therapiestunden auf Krankenkasse bekommt und schafft es. Sie ist es auch, die zur Polizei geht, mit einem Bild ihrer Kinder und ihres Mannes, mit den Adressen von Kindergarten und Wohnung, weil sie Angst hat, der Vater könnte seine Kinder entführen. Die Polizei will die Unterlagen nicht nehmen, es sei ja noch nichts passiert, sagen sie. Erst als Pankhart zur Polizeiinterventionsstelle geht, müssen die Polizisten die Fotos doch nehmen. Beim Arbeitsmarktservice und beim Berufsrehabilitationszentrum hat sie weniger Glück. Sie bekommt nicht die Ausbildungen, die sie sich wünscht und wenig konstruktive Unterstützung. Schließlich findet sie selbst einen Job, arbeitet jetzt als Bürokauffrau.

Welche Bedeutung hat Geld, wenn man wenig davon hat? „Eine existentielle“, sagt Pankhart. Manchmal weiß sie nicht, woher sie Geld für einfache Dinge nehmen soll, heute hat sie nur ein Brot und Klopapier gekauft, es ist Monatsende und das Geld ist knapp. Sie hat sich ihre eigenen Strategien geschaffen, um damit umzugehen. Wenn sie an Urlaub denkt, fährt sie ins Gänsehäufel, mittlerweile kommt da schon Urlaubsstimmung auf. „Arm ist jemand, der nicht kreativ ist“, sagt sie.

Es ist unangenehm, als arm zu gelten. Der Begriff Armut ist wichtig, weil er eine Ungerechtigkeit aufzeigt, die es zu ändern gilt. Aber er stigmatisiert auch. Nur Peter Gach wollte seine Geschichte unter seinem echten Namen erzählen, Angelika Geber und Johanna Pankhart heißen in Wirklichkeit anders. Vielleicht schaffen wir es irgendwann, dass Menschen mit wenig Geld sich nicht mehr entwürdigt fühlen müssen in vielen Alltagssituationen. Ein Schritt ist, sichtbar zu werden und davon zu erzählen, was Alltag mit Armut heißt. Und weiterhin für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen.

Beitragsbild: Scott Umstattd | Unsplash

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